Tschernobyl: Touri-Attraktion 30 Jahre nach dem Atomgau

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Blick auf den Kulturpalast Energetik der vor 30 Jahren evakuierten Geisterstadt Prypjat in der Sperrzone des explodierten Atomreaktors von Tschernobly in der Ukraine (Foto: Wikimedia)
Blick auf den Kulturpalast Energetik der vor 30 Jahren evakuierten Geisterstadt Prypjat in der Sperrzone des explodierten Atomreaktors von Tschernobly in der Ukraine, der nur 5 Kilometer entfernt ist (Foto: Wikimedia)

Am 26. April 1986 explodierte bei einem Stromausfalltest der 4. Reaktor des ukrainischen Atomkraftwerks Tschernobyl. Die 5 Kilometer entfernte, eigens für das Atomkraftwerk im Jahr 1970 errichte Arbeiterstadt Prypjat mit 49.380 Einwohnern (darunter 15.500 Kindern) am gleichnamigen Fluss, der über den Dnepr ins Schwarze Meer fließt, wurde evakuiert. Sie ist heute 30 Jahre nach der Katastrophe eine Geistersadt und in zunehmenden Maße eine Touristenattraktion. Eine geführte 2-Tagestour kostet von Kiew aus pro Person 280 Euro.

Die neuen Herren eines durch den Prypjat gefluteteten Sumpfgebietes (mit 4.300 Quadratkilometern das größte Europas) sind Wölfe, Adler und Bisons, die eigentlich vom Aussterben bedroht waren.

Schon 2009 meldete die französische Nachrichtenagentur AFP 7.500 Menschen als Touristen vor Ort. Das US-amerikanische Forbes Magazine bezeichnete Prypjat/Tschernobyl damals als Reiseziel der Kategorie „world’s unique places to visit“ (weltweit einzigartige Orte für einen Besuch).

Die Besucher wurden von Touristenführern in kleinen Gruppen durch die Sperrzone geleitet – auf eigene Gefahr. Die Explosion setzte etwa 500 Mal mehr Strahlung frei als die US-Atombombe auf das japanische Hiroshima 1945. Bis heute ist die genaue Zahl der Opfer unklar. Atomkraftgegner sprechen von bis zu 100.000 Toten und tausenden verstrahlten Menschen.

Im Dezember 2000 hatte die Ukraine den letzten der vier Blöcke in Tschernobyl abgeschaltet. Der explodierte Reaktor war mit einem Mantel aus Stahl und Blei geschützt worden. Pläne für eine neue hunderte Millionen Euro teure Schutzhülle kommen äußerst schleppend voran. Aufgrund der Kontaminierung mit radioaktivem Material wird Prypjat mindestens für die nächsten 300 Jahre unbewohnbar bleiben.

Ende Juli 2011 wurde das Gebiet um das Kernkraftwerk Tschernobyl endgültig für den Tourismus geöffnet. Vertreter des UN-Entwicklungsprogramms, das bereits seit 2004 koordinierend vor Ort ist, begrüßten diese Entscheidung, da so dringend benötigte Investitionen in die Region gelangen könnten.

„Der Gruseleffekt scheint inzwischen auch immer mehr Menschen anzulocken“, schrieb vor wenigen Tagen WELT-Autor Ulli Kulke. Schon werden jedes Jahr hunderttausende Touristen mit Bussen durch die Sperrzone gefahren. Die Regierung der Ukraine will die Zahl auf eine Million anheben. Da wäre man fast schon im Bereich des Touristenmagneten Hohenschwanstein.“

Was die Touristen zu sehen bekommen, nennt Kulke ein „verseuchtes Paradies“

Bis auf ein paar abgestorbene Bäume ist alles wieder grün. Doch Strahlen sind unsichtbar. 300 Wölfe hat man inzwischen gezählt. Ihre Anzahl ist etwa sieben Mal höher als in vergleichbaren Gebieten Osteuropas. Der tierische Gabentisch ist reich bestückt. Bisonherden fressen und vermehren sich ohne erkennbare Schäden. Ukrainische Forscher haben über Jahre im strahlenverseuchen Gebiet Tausende dort freilebende Siebenschläfer untersucht. Monster mit 2 Köpfen fanden sie nicht. Wohl hatten aber bis zu 6 Prozent der Tiere körperliche Veränderungen. Das Fell war leicht verfärbt. Einige waren blind. Oder der Schädel war leicht verformt.

Bis zu 6 Prozent – das sind etwa doppelt so viele Missbildungen wie in Vergleichsgebieten. Bezogen auf den Menschen wären das erschreckende Zahlen. Wirklich schwer geschädigte Siebenschläfer sterben rasch und vermehren sich nicht. Die anderen haben aber so viele Nachkommen, dass innerhalb der Sperrzone mehr Siebenschläfer leben als außerhalb.

Forscher haben festgestellt, dass die Vögel im Strahlengebiet überdurchschnittlich gesund sind

In den verlassenen Hochhäusern der Trabantenstadt Prypjat fanden Turmfalken ideale Brutplätze. Seeadler finden insbesondere, wenn der Prypjat nach der Schneeschmelze über die Ufer tritt, im Sumpf reichhaltige Beute.

Der Biologe Ismael Galván von der Universität Paris-Süd hat vor zwei Jahren 150 Vögel von 16 verschiedenen Arten innerhalb und außerhalb des Sperrgebietes untersucht. In der Fachzeitschrift „Functional Ecology“ veröffentlichte er darüber sehr überraschende Ergebnisse.

Demnach hatten die Blut-, Sperma- und Federproben ergeben, dass die Vögel, die in Gebieten mit besonders hoher Strahlenbelastung leben, im Durchschnitt gesünder waren als die aus den weniger kontaminierten Regionen. Die Tiere seien größer und hätten sogar weniger Erbgutschäden. Der von ihm vermutete Grund: Lebewesen entwickeln in ihrem Körper sogenannte Antioxidanten, um die natürliche Strahlung zu neutralisieren. Bei den Vögeln rund um den ehemaligen Reaktor war die Konzentration des Stoffes besonders hoch, so dass der schädliche Einfluss der Strahlung offenbar überkompensiert wurde. „Diese Ergebnisse geben uns einen Einblick, welche Möglichkeiten verschiedene Spezies haben, sich Herausforderungen wie in Tschernobyl und Fukushima zu stellen“, fasst Galván seine Ergebnisse zusammen.

Andere Studien, insbesondere aus den Jahren nach der Reaktorkatastrophe, stellten allerdings erhebliche Missbildungen bei den Tieren rund um Tschernobyl fest. Insbesondere bei weißen Labor-Ratten, die Forscher im verseuchten Gebiet in Käfigen hielten, wurde Leukämie festgestellt. Doch ein eindeutiger wissenschaftlicher Beweis, dass die Krankheiten allein von der Strahlung herrührten, konnte bis heute weder bei Ratten noch bei Menschen erbracht werden.

In der Sperrzone leben noch immer 200 Menschen, durchweg ältere, die sich nicht um die Strahlung kümmern. Ihre Heimatliebe wiegt ihnen schwerer als die Angst vor der Strahlung.

In Prypjat gibt es noch heute einen Rummelplatz mit Riesenrad und Autoscooter. Der Rummel sollte am 1. Mai 1986 eröffnet werden, wozu es wegen der Reaktorkatastrophe nicht mehr kam. Nun ist der Volksfestplatz eine gruselige Touristenattraktion.

3 KOMMENTARE

  1. Es macht für mich keinen Unterschied, ob Journalisten und Pressefotografen sich entweder in Kriegsgebiete, oder in gesundheitsgefährdete Gebiete begeben. Das Risiko ist zwar jeweils anders zu sehen, aber es ist vorhanden. Touristen würde ich jedoch ganz einfach zur Sicherheit, andere Arten von Abenteuerurlauben empfehlen.

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